Sonntag, 21. November 2010

Mia - doppelte Sünde.

Flüchtende Pflanzen, Madrid
Sowiesowil, wo ich herkomme, ist für das Leben zum Leben ungeeignet. Langatmige Regenfälle und lausige ÖV-Verbindungen machen jedes Vorhaben ungeheuer mühsam. Schon mit zwanzig ist die Landfrau oft ordentlich müde, so richtig erholen kann man sich erst mit sechzig. Es ist ein zeitloses Leben, zu dessen grössten Errungenschaften die Möglichkeit zählt, im eigenen Bett oder in der Beiz zum lachenden Löwen zu sterben. Dazwischen gibt es eigentlich nur Erziehung, Pubfestivals und 1. August-Feiern.

Ein ganz anderes Leben findet hier in der Halbgrossstadt Bern statt. Man kann gleichzeitig mehrere Leben führen. Doppellebig. Nichts ist hier so, wie es scheint. Beispielsweise die Postschalterfrau, eine halblustige und senfgelbblusentragende Frau mit dem Namensschild Rickli erlebe ich wenige Tage nach der letzten Transaktion als Tänzerin im Schlachthaustheater. Sie symbolisiert das weibliche Glück: In einem wallenden weissen Kleid tanzt sie zuviele Runden auf der Bühne. Hie und da schaut sie bei einer Herdplatte mit drei grossen Töpfen vorbei. In denen kocht Rickli eine undefinierbare Masse. Nach etwa fünfzehn Minuten schwitzt die tanzende Köchin ordentlich. Sie geht zum Herd und schüttet hastig den Inhalt der Kochtöpfe über ihr Kleid. Die Schüttmasse: Schokolade. Der Kritiker vom Drrr Bund schreibt nach der der Performance, dass die Choreographie unglaubwürdig und allenthalben sexistisch sei. Ich nicke lesend und meine, Schönheit liegt im Auge der Betrachterin. Und die Schoggirickli fand ich nicht schön. Und zudem befürchte ich nun, dass zukünftig sämtliche Briefmarken, bei der notwendigen Schleckerei, nach Schokolade riechen werden.

Herr Muhmenthaler und ich begegnen uns auf dem RAV, als ich einmal etwas langzeitarbeitslose. Wobei dieser Begriff nicht abschliessend auf mich zutrifft. Denn manchmal habe ich auch gegen Naturalien gearbeitet und nicht für Schweizer Franken. Aber irgendwie ist das auf dem RAV-Formular nicht vorgesehen. Item. Seine Aufgabe besteht darin, Arbeitslose mit schwer vermittelbaren Berufen wie Balletttänzerin, katholischer Pfarrer und GCZ-Spieler dazu zu bringen, mittels Umschulung den Beruf zu wechseln. Herr Muhmenthaler spricht oft und ausdauernd und gerne über Vernunft. „Wissen Sie, Mia, ich bin ein grosser Freund ihres Berufes“, sagte er zu mir, „und ich bin schampar froh, dass man ihre Leistung heutzutage an mancher Ecke bestaunen kann. Aber ich rate Ihnen dringend, einen vernünftigen Job zu erlernen, den einer Wirtschaftsprüferin oder einer Steuerberaterin Schweiz-Deutschland beispielsweise.“ - Sein Hemd passt farblich ideal zu den Tapeten in seinem Büro. - Muhmenthaler klingt sehr vernünftig und überzeugend. Er verdirbt mir für den Rest des Tages gründlich meine Laune. - Zufälligerweise habe ich meinem Vater am selben Tag versprochen, ihm den abendlichen Breitsch etwas näher zu bringen. Darauf wartet er schon ordentlich lange. Schliesslich will er wissen, wo seine Tochter sich so herumtreibt. Kurz nach 22 Uhr landen wir in einer Lokalität, welche nicht nur von Heteros besucht wird. Dort erzähle ich meinem Vater von dem frustrierenden RAV-Gespräch. Plötzlich entdeckte ich Muhmenthaler in einer Ecke. Er trägt Jeans mit Lederelementen, eine senfgelbe und damit rickliartige Lederjacke und um den Hals eine einigermassen dicke Goldkette. Aber eben, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein junger, offenbar ziemlich fröhlicher Thailänder, sitzt lachend auf seinem Schoss. Herr Muhmenthalers Augen glänzen. „Da ist er übrigens, mein RAV-Berater“, sage ich zu meinem Vater, der sich hemmungslos umsieht, dann den Kopf langsamtadelnd schüttelt und meint, dass Unkraut nicht vergeht. Ich kontere mit, „zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.“

1 Kommentar:

  1. schön. da schaue ich nach langem wieder mal vorbei und ausgerechnet heute gibts ein neues gschichtli :-) lg,j.

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