Dienstag, 28. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - wo ist Julio Lopez?


Julio's Vater war Fischermann.
Julio's Grossvater war Fischermann.
Julio's Urgrossvater arbeitete als Schmied. Aber dies wurde ihm zu langweilig. Also wurde er Fischermann.
Julio ist noch zu jung für Männerarbeit, eigentlich überhaupt, für irgendwelche Arbeit.
Julio geht noch zur Schule.
Julio lebt zusammen mit seinen beiden Brüdern (der ältere kitzelt ihn oft, manchmal bis die Tränen kommen), den Eltern, einer Grossmutter (mütterlicherseits) und einem fetten Labrador in einem Fischerdorf in Patagonien, am Atlantik. Aufgrund der kalten Antarktisströmungen tummeln sich kaum Fische im Meer. Also ist die Fischerei kein Dulce-de-Leche-Schlecken. Dementsprechend isst die Fischerfamilie Lopez mehr Fleisch als Fisch. Fleisch aus den unendlichen Weiden Patagonien's.
Julio hasst Fisch. Er hasst den Anblick, den Geruch, die Schuppen, die starrenden Augen.
Julio wischt sich seine Hände mindestens einmal pro Stunde. Der Fischgeruch soll sich verflüchtigen. Soll untergehen im Seifenbad.
Julio muss trotz seiner Jugend mitarbeiten. Nicht beim Angeln, aber bei der Präparation der schleimigen Fische für den Markt, bei der Filetierung, beim Transport. Der Fischgestank dringt in seine Poren, nistet sich ein. Die Kleider riechen nach Fisch. Er trägt Schuppen aus Baumwolle. Auch die Familie, die Möbel, die Bücher, die Luft.
Julio lebt in einem Walfisch.
Julio ist ein Fisch (Sternzeichen Wassermann).
Die vielen Stunden mit der geliebten Seife, das Gerubbel, die schamparen Anstrengungen gegen die Düfte können dies nicht verhindern.
Julio ist ein Fisch.
Er springt ins Meer, er schwimmt, er taucht. Ein Fisch bei Fischen. Tauchend wachsen Kiemen, spriessen Flossen. Die Haut mutiert zu Schuppen. Julio ist ein Fisch.
Julio taucht unter. Das Dorf fragt sich: "Wo ist Julio Lopez?"

Dienstag, 14. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Herr J. wagt eine Affäre.

Das Delta des braunen Stromes Parana ist seine Heimat. Seit beinahe sechzig Jahren lebt Herr J. nun schon in Tigre, der Stadt am Ufer des Parana's. Herr J. wohnt mit seiner Frau in einem Stelzenhaus. Diese Stelzen sind notwendig, damit das Haus bei Hochwasser oder Flut nicht unter Wasser steht. Herr J. ist ein pensionierter Auditor, ein belesener Auditor. Seit dem Beginn des Rentenalters sind seine Tage nicht mehr ausgefüllt. Meistens sitzt er zuhause, liest die Zeitung oder werkelt am Haus herum. Frau J. ist ebenfalls meistens im Stelzenhaus. Sie kocht, sie putzt, sie schläft (dazu atmet sie einigermassen laut). Auch wenn Herr J. dies nie laut sagt, nur in seinem Kopf, findet er die Anwesenheit von Frau J. meist als störend. Er hört ihr kaum zu, wenn sie wieder eine ihrer Geschichten, ihrer Jammergeschichten erzählt. Die Nachbarn tun scheinbar allerhand mühsame Sachen. Item, ruhig ist sie auf jeden Fall nie. Aber Ruhe wünscht sich Herr J. Denn er möchte lesen, stundenlang lesen. Die Parks und Cafes sind ihm auch zu laut und im Stelzenhaus fuhrwercht die lärmige Ehefrau. Herr J. möchte lesen, stattdessen wird er rastlos, immer öfter ausfällig, weil er seiner Leidenschaft nicht nachgehen kann. Ausfällig, um sich gleich wieder bei Ehefrau J. zu entschuldigen. Denn Herr J. liebt seine Frau. Aber er liebt halt auch seine Bücher. An einem Dienstag Vormittag sitzt Herr J. auf dem Sofa und liest Borges. Frau J. beschliesst ein Tänzchen mit dem Staubsauger zu wagen. Da macht sich Herr J. aus dem Staub, besteigt den nächsten Zug von Tigre nach Buenos Aires. Dort, in der Hauptstadt, ist der Lärmpegel aber noch lauter als im Stelzenhaus. Die Porteños sind kollektiv am Staubsaugen. Herr J. verdreht die müden Augen, dann den Kopf und schlussendlich seinen ganzen drahtigen Körper. Vor Schreck eilt er in die nächste Bar und bestellt einen Kafi mit einem grossen, kalten Mineralwasser. Der nicht unfreundliche Barmann lehnt aber seinen Wunsch überraschend ab. Herr J., nun nervlich am Grenzübergang zum Nervenzusammenbruch, erkennt seinen Irrtum erst nach einigen Sekunden. Er steht an einer Hotelreception. Also nimmt er sich trotzig und spontan ein Zimmer, für eine Nacht. Schliesslich würde er nie eine Bar mit einem Hotelzimmer verwechseln. Im Hotelzimmer ist es ruhig, bloss dumpfer und entfernter Strassenlärm. Herr J. legt sich auf das Bett und liest Borges. Fünf Stunden später besteigt er den Regionalzug nach Tigre. Seine Frau im Stelzenhaus fragt ihn, wo er den bloss gewesen sei. Das Mittagessen und in inzwischen auch das Abendessen seien im Kühlschrank. Herr J. meint, er sei in der Stadt gewesen. Bald geht Herr J. mehrmals pro Woche und später gar an jedem Wochentag nach Buenos Aires, checkt in das Hotel ein, liest und eilt dann pünktlich zum Abendessen zurück nach Tigre. Frau J. ist misstrauisch, sagt aber nichts. Frau J. sagt grundsätzlich nicht viel. Aber, kurz vor Weihnachten hält es Frau J. nicht mehr aus. Sie will wissen, was ihr Mann in der Hauptstadt treibt. Ist er ein Spieler? Hat er eine Affäre? Also folgt sie ihm, zuerst auf dem Zug, dann in den Strassen, schlussendlich bis in die Hotellobby. Dort überhört sie absichtlich die Zimmernummer. Dieses Schwein, denkt sie. Che boludo. Das lässt sie sich nicht gefallen. Nach zwanzig Minuten, inzwischen sind vier ältere, eher schlampige Señoras durch die Lobby gestapft, klopft Frau J. an das Hotelzimmer ihres Ehemann's. Dieser öffnet. Frau J. stürmt in das Zimmer und sucht die andere Frau, die Schlampe. Sie findet aber nur den papierenen Borges. Inzwischen wird das Stelzenhaus nur noch selten einem Staubsaugertänzchen ausgesetzt. Dafür liest Herr J. nun zuhause. Borges und Herr J. brauchen kein Hotelzimmer mehr für ihre Affäre.

Freitag, 10. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Müllsammlermenschen.

Sie sind hungrig, sie sind arm, sie sind arbeitslos. Jeden Abend fahren sie mit Bussen, Zügen, Lastwagen aus dem Umfeld von Buenos Aires hinein in die Innenstadt. Mit grossen Handkarren ziehen sie durch die Stadt, Esel und Fahrer zugleich, öffnen die Müllsäcke auf der Suche nach verwertbaren Materialien. Besonders wertvoll sind Altpapier, Karton und Glas. Diese Güter bringen sie auf die Entsorgungshöfe und verkaufen die Schätze der Nacht für einige mickrige Centavos pro Kilogramm. Die Wirtschaftskrise und das fehlende Recyclingprogramm hat Tausende in die Müllsammlerwelt getrieben. Kinder, Alte, Erwachsene verteidigen ihre erkämpften Territorien. Wenn notwendig auch mit roher Gewalt. Aber nicht nur die Müllsammler bekriegen sich, nein, auch die Stadt wehrt sich. Die Müllsammler sind am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Busse, Lastwagen, Taxis streifen die Sammelnden, nicht selten absichtlich. Bierflaschen fliegen durch die Luft. Die Abgase schleichen sich über die Jahre in die Lungen. Sie sind die Unsichtbaren, die Verlorenen, die Parasiten der Nacht. Sie bleiben hungrig, arm, arbeitslos.

Donnerstag, 9. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Die Gesichter von San Telmo.

Das Quartier am braunen Fluss, also eigentlich Silberfluss. Hier lebten die Neuankömmlinge, die Immigranten, die Verzweifelten, die Flüchtenden, die Arbeiter. Die reichen Porteños hatten die Häuser, die stinkigen Häuser längst verlassen. Gekocht wurde mit Kohle, Holz oder überhaupt nicht. Die Zimmer waren klein. Beispielsweise das Haus an der Defensa 735. Dort gibt es immer noch 102 Zimmer. Je ein Bett, ein Tisch, Stühle. Damals, ja damals ratterten und bimmelten die Trams durch die Pflastersteinstrassen. Von La Boca bis rauf zur Casa Rosada. San Telmo war familiär, der Milchmann kam jeden Tag vorbei, auf dem Pferdekarren. Es war verboten auf den Boden zu spucken. Nur in designierten Zonen war dies möglich. Dorfleben mitten im Moloch der Millionen. Dann kam der 2. Weltkrieg. Unten bei den Docks legten die Schiffe der Britischen Marine an. Für die gelangweilten Matrosen gab es Unterhaltung: Boxkämpfe und Kino. Die Kinder von San Telmo schauten auch zu, tranken Coca Cola und tanzten zu Jazz. Das Barrio war ein angenehmer Ort um zu leben, um glücklich zu sein. Vor der Militärdiktatur (1976-1983) fand das Leben in den Strassen statt, es wurde palavert, gesungen. Und wer singt heute? Niemand. Wenn jemand singt ist er entweder betrunken, verrückt oder will Geld für das Gejaule. Ende der 70er Jahre wurde die Autobahn quer durch San Telmo gebaut. Manche Häuser standen im Weg und wurden abgebrotzt, Familien umgesiedelt, zwangsweise. Die Autobahn zerschnitt das Quartier und die Lebensfreude versank im Schlund dieses Betonmonsters. Das Quartier wurde grau. Später kamen die Künstler, die Studenten, die Touristen. Das Geld fliesst wieder, das Leben spriesst aus den grauen Mauern hervor. Ein anderes Leben, ein schnelleres Leben, ein weniger gemütliches Leben, aber immer noch ein gutes Leben. Das sind nicht meine Erinnerungen. Es sind die Erinnerungen von Hector, Gustavo, Nancy und Americo. Menschen, welche ihre Leben in San Telmo verbracht haben. Sie sind die Gesichter von San Telmo.

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Zahlen.

39 Mio. - Anzahl Einwohner Argentinien.
13 Mio. - Anzahl Einwohner Metropolitan Buenos Aires (BA).
12. - Rang BA in der Liste der grössten Städte der Welt.
4. - Rang BA in der Liste der lautesten Städte der Welt.
1:30 - Ratio Psychotherapeuten zur Bevölkerung BA.
1:100 - Ratio im Rest der "entwickelten" Welt.
3 - Anzahl Präsidenten, welche seit 1914 Ihre Legislaturperiode beendet haben.
4 - Anzahl Präsidenten innerhalb 11 Tagen im Dezember 2001.
30'000 - Anzahl Personen, welche während der Militärdiktatur verschwunden sind.

Montag, 6. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Der Schlüssel.

Dolores betrachtet den feinen Nebelschleier, der sich in der Ferne über das geduckte Hausdach senkt und denkt: Es ist allenthalben spät, ich sollte mich beeilen. Der Weg ist steil und kurvig, mit unregelmässigen Granitsteinen gepflastert. Sträucher, dornige Büsche säumen ihn, die Luft ist frisch, parfümiert. Es ist schon wieder Oktober, denkt Dolores. Ob es wohl bald regnet? Sie hat länger als üblich am Cello gesessen, es gestreichelt und dies gibt ihr ein leises Gefühl der Unruhe. Aber wie hätte sie der Akkustik der leeren Kirchen widerstehen sollen? Die Messe war vorbei, die knorrigen Frauen längst zuhause und der Pfarrer war auch nicht zu sehen. - Vom Kirchenplatz ist Dolores' Haus kaum zu sehen, nur das morsche Dach und die Fenster des oberen Stockwerkes; Efeu rauft sich bis zu den Fensterbänken empor. In Nestor's Zimmer brennt ein milchiges Licht, wohl die abgedeckte Lampe auf der Kommode. Auf einem kleinen Tisch stehen militärisch aufgereiht die Bücher seines Lebens: die Bibel, zwei Kafka's, Borges in Hülle in Fülle, der unvermeidliche Neruda, der langatmige Dario, Frisch's Tagebücher, der neueste Pedro Lenz, ein Boyd, seine eigenen Tagebücher und ein Buch mit dem Titel "Jonglieren für Anfänger". Nun steht Dolores unten an der Türe und sucht den Hausschlüssel. Hoffentlich liegt dieser nicht wieder neben der Orgel in der verdammten Kirche. Derweil regt sich Nestor erbost úber die erneute Niederlage seiner geliebten Boca Juniors auf und schmeisst wütend einen Borges an die weiss getünchte Zimmerwand. Sein Wurf verfehlt aber das nicht verfehlbare Ziel deutlich und das Buch fliegt aus dem Fenster auf das Bürzi von Dolores. Sie kippt um, mehr vor Schreck, aber dennoch. Der vermisste Schlüssel fällt aus der Manteltasche. Dolores war schon unglücklicher.

Inspiriert von einem Buch, dessen Titel ich nicht kenne.

Sonntag, 5. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Shopping Mall.

Ähnlich wie in Europa, verkommen auch die Innenstädte bei den Silbermenschen zu Museen. Die Kommerzialisierung findet ausserhalb, auf der grünen Wiese (bei uns heisst das Schönbühl oder Westside) statt. Beispielsweise ausserhalb der Stadt Rosario, wo derzeit die grösste Shopping Mall südlich von Sau Paulo gebaut wird. Die grauen Mauern mit den Eisenstangen für weitere Stockwerke ragen in den dunkelblauen Himmel. Gleich neben der grossen Baustelle befindet sich die "Villas miserias", Elendsviertel. In sanitärfreien und auch sonst eher freien Hütten hausen die Bauarbeiter und deren Familien. Es sind Wanderarbeiter, welche von Baustelle zu Baustelle ziehen. Im Gegensatz zu manch' anderen Berufsgattungen in Argentinien, sind sie nicht in einer Gewerkschaft und besitzen dementsprechend kaum Rechte. Sie sind nicht gegen Krankheit und Unfall versichert, Rente gibt es selbstverständlich auch nicht. Die Tageslöhne befinden sich zwischen 3 und 5 USD pro Stunde. Innerhalb der Hüttensiedlung gibt es Läden, Restaurants, eine Schule und einen Dorfplatz. Sogar Strassennamen wurden bestimmt. Das Leben findet auch ohne Annehmlichkeiten statt. Dennoch ist eine Romantisierung der Armut auch mit Fantasie nicht möglich. Die Kindersterblichkeit ist weit über dem Durchschnitt und die Armut zwingt viele Bewohner in die Kriminalität, wobei diese scheinbar bloss ausserhalb der Siedlung stattfindet. Innerhalb soll ein Ehrenkodex gelten. Am Mittag besuchen die Familien jeweils die Baustelle und bringen den arbeitenden Männern ein Mittagessen. Der Müll wird nach dem Essen neben die Baustelle geschmissen. Dementsprechend sieht die ganze Gegend um die Baustelle wie eine Müllhalde aus. Hunde, Kinder und Vögel sammeln die Reste ein.

Freitag, 3. Oktober 2008

Bei den Silbermenschen - Elton John ist Käse.

Warum mögen einige Menschen die Musik von Elton John? Item, ein Raum, eine Art Restaurant, früher hätte mensch wohl Speisehalle gesagt. Nur Männer sitzen da, fast alle essen alleine, trinken Bier (aus der 1-Liter-Flasche), dazu dröhnt Television 24durch den sterilen Raum. Draussen die Strasse, die lichtüberflutete Plaza, viel Verkehr (Busmotoren wie Maschinengewehre), aber auch lachende Schulkinder. Baumwollknäuel fliegen durch die Luft. Die Männer sind ruhig und starren, die Männer essen. Hie und da wird ordentlich gerülpst. Immer noch Elton John. Und ja, Gipfeli heissen hier Medialunas und riechen leicht nach Käse. Elton John ist auch Käse.