Dienstag, 14. Oktober 2008
Bei den Silbermenschen - Herr J. wagt eine Affäre.
Das Delta des braunen Stromes Parana ist seine Heimat. Seit beinahe sechzig Jahren lebt Herr J. nun schon in Tigre, der Stadt am Ufer des Parana's. Herr J. wohnt mit seiner Frau in einem Stelzenhaus. Diese Stelzen sind notwendig, damit das Haus bei Hochwasser oder Flut nicht unter Wasser steht. Herr J. ist ein pensionierter Auditor, ein belesener Auditor. Seit dem Beginn des Rentenalters sind seine Tage nicht mehr ausgefüllt. Meistens sitzt er zuhause, liest die Zeitung oder werkelt am Haus herum. Frau J. ist ebenfalls meistens im Stelzenhaus. Sie kocht, sie putzt, sie schläft (dazu atmet sie einigermassen laut). Auch wenn Herr J. dies nie laut sagt, nur in seinem Kopf, findet er die Anwesenheit von Frau J. meist als störend. Er hört ihr kaum zu, wenn sie wieder eine ihrer Geschichten, ihrer Jammergeschichten erzählt. Die Nachbarn tun scheinbar allerhand mühsame Sachen. Item, ruhig ist sie auf jeden Fall nie. Aber Ruhe wünscht sich Herr J. Denn er möchte lesen, stundenlang lesen. Die Parks und Cafes sind ihm auch zu laut und im Stelzenhaus fuhrwercht die lärmige Ehefrau. Herr J. möchte lesen, stattdessen wird er rastlos, immer öfter ausfällig, weil er seiner Leidenschaft nicht nachgehen kann. Ausfällig, um sich gleich wieder bei Ehefrau J. zu entschuldigen. Denn Herr J. liebt seine Frau. Aber er liebt halt auch seine Bücher. An einem Dienstag Vormittag sitzt Herr J. auf dem Sofa und liest Borges. Frau J. beschliesst ein Tänzchen mit dem Staubsauger zu wagen. Da macht sich Herr J. aus dem Staub, besteigt den nächsten Zug von Tigre nach Buenos Aires. Dort, in der Hauptstadt, ist der Lärmpegel aber noch lauter als im Stelzenhaus. Die Porteños sind kollektiv am Staubsaugen. Herr J. verdreht die müden Augen, dann den Kopf und schlussendlich seinen ganzen drahtigen Körper. Vor Schreck eilt er in die nächste Bar und bestellt einen Kafi mit einem grossen, kalten Mineralwasser. Der nicht unfreundliche Barmann lehnt aber seinen Wunsch überraschend ab. Herr J., nun nervlich am Grenzübergang zum Nervenzusammenbruch, erkennt seinen Irrtum erst nach einigen Sekunden. Er steht an einer Hotelreception. Also nimmt er sich trotzig und spontan ein Zimmer, für eine Nacht. Schliesslich würde er nie eine Bar mit einem Hotelzimmer verwechseln. Im Hotelzimmer ist es ruhig, bloss dumpfer und entfernter Strassenlärm. Herr J. legt sich auf das Bett und liest Borges. Fünf Stunden später besteigt er den Regionalzug nach Tigre. Seine Frau im Stelzenhaus fragt ihn, wo er den bloss gewesen sei. Das Mittagessen und in inzwischen auch das Abendessen seien im Kühlschrank. Herr J. meint, er sei in der Stadt gewesen. Bald geht Herr J. mehrmals pro Woche und später gar an jedem Wochentag nach Buenos Aires, checkt in das Hotel ein, liest und eilt dann pünktlich zum Abendessen zurück nach Tigre. Frau J. ist misstrauisch, sagt aber nichts. Frau J. sagt grundsätzlich nicht viel. Aber, kurz vor Weihnachten hält es Frau J. nicht mehr aus. Sie will wissen, was ihr Mann in der Hauptstadt treibt. Ist er ein Spieler? Hat er eine Affäre? Also folgt sie ihm, zuerst auf dem Zug, dann in den Strassen, schlussendlich bis in die Hotellobby. Dort überhört sie absichtlich die Zimmernummer. Dieses Schwein, denkt sie. Che boludo. Das lässt sie sich nicht gefallen. Nach zwanzig Minuten, inzwischen sind vier ältere, eher schlampige Señoras durch die Lobby gestapft, klopft Frau J. an das Hotelzimmer ihres Ehemann's. Dieser öffnet. Frau J. stürmt in das Zimmer und sucht die andere Frau, die Schlampe. Sie findet aber nur den papierenen Borges. Inzwischen wird das Stelzenhaus nur noch selten einem Staubsaugertänzchen ausgesetzt. Dafür liest Herr J. nun zuhause. Borges und Herr J. brauchen kein Hotelzimmer mehr für ihre Affäre.
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Vielleicht sollte Frau J. auch anfangen zu lesen (muss ja nicht gleich Borges sein) und Herr J. Staub zu saugen.
AntwortenLöschenDas hat sich die Frau J. auch gedacht und dem Ehemann "Staubsaugen für Staubfänger" gekauft.
AntwortenLöschen...und Herr J. sagt: es gieng mängs vil ringer, we si so wär wi ig, oder ig, oder ig villech so wie si...? Jetzt habe ich immer geglaubt, das sei nur in der Schweiz so...
AntwortenLöschenDa irren Sie Frau R. Das ist international, global, ein Nebenprodukt der Globalisierung, welche halt nicht bloss ökonomisch, sondern auch allerlei vielfältig ist.
AntwortenLöschenHerr B.
AntwortenLöschenWenn das so ist, dann wäre es glaub doch besser, ich liesse mich nicht vo Bälpmoos furt spicke a ds Kap der Guten Hoffnung.
I gloub, i zünde eifach mini Wohnig a u schnide mir dr Fluchtwäg ab.