Dolores betrachtet den feinen Nebelschleier, der sich in der Ferne über das geduckte Hausdach senkt und denkt: Es ist allenthalben spät, ich sollte mich beeilen. Der Weg ist steil und kurvig, mit unregelmässigen Granitsteinen gepflastert. Sträucher, dornige Büsche säumen ihn, die Luft ist frisch, parfümiert. Es ist schon wieder Oktober, denkt Dolores. Ob es wohl bald regnet? Sie hat länger als üblich am Cello gesessen, es gestreichelt und dies gibt ihr ein leises Gefühl der Unruhe. Aber wie hätte sie der Akkustik der leeren Kirchen widerstehen sollen? Die Messe war vorbei, die knorrigen Frauen längst zuhause und der Pfarrer war auch nicht zu sehen. - Vom Kirchenplatz ist Dolores' Haus kaum zu sehen, nur das morsche Dach und die Fenster des oberen Stockwerkes; Efeu rauft sich bis zu den Fensterbänken empor. In Nestor's Zimmer brennt ein milchiges Licht, wohl die abgedeckte Lampe auf der Kommode. Auf einem kleinen Tisch stehen militärisch aufgereiht die Bücher seines Lebens: die Bibel, zwei Kafka's, Borges in Hülle in Fülle, der unvermeidliche Neruda, der langatmige Dario, Frisch's Tagebücher, der neueste Pedro Lenz, ein Boyd, seine eigenen Tagebücher und ein Buch mit dem Titel "Jonglieren für Anfänger". Nun steht Dolores unten an der Türe und sucht den Hausschlüssel. Hoffentlich liegt dieser nicht wieder neben der Orgel in der verdammten Kirche. Derweil regt sich Nestor erbost úber die erneute Niederlage seiner geliebten Boca Juniors auf und schmeisst wütend einen Borges an die weiss getünchte Zimmerwand. Sein Wurf verfehlt aber das nicht verfehlbare Ziel deutlich und das Buch fliegt aus dem Fenster auf das Bürzi von Dolores. Sie kippt um, mehr vor Schreck, aber dennoch. Der vermisste Schlüssel fällt aus der Manteltasche. Dolores war schon unglücklicher.
Inspiriert von einem Buch, dessen Titel ich nicht kenne.
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