Donnerstag, 9. Oktober 2008
Bei den Silbermenschen - Die Gesichter von San Telmo.
Das Quartier am braunen Fluss, also eigentlich Silberfluss. Hier lebten die Neuankömmlinge, die Immigranten, die Verzweifelten, die Flüchtenden, die Arbeiter. Die reichen Porteños hatten die Häuser, die stinkigen Häuser längst verlassen. Gekocht wurde mit Kohle, Holz oder überhaupt nicht. Die Zimmer waren klein. Beispielsweise das Haus an der Defensa 735. Dort gibt es immer noch 102 Zimmer. Je ein Bett, ein Tisch, Stühle. Damals, ja damals ratterten und bimmelten die Trams durch die Pflastersteinstrassen. Von La Boca bis rauf zur Casa Rosada. San Telmo war familiär, der Milchmann kam jeden Tag vorbei, auf dem Pferdekarren. Es war verboten auf den Boden zu spucken. Nur in designierten Zonen war dies möglich. Dorfleben mitten im Moloch der Millionen. Dann kam der 2. Weltkrieg. Unten bei den Docks legten die Schiffe der Britischen Marine an. Für die gelangweilten Matrosen gab es Unterhaltung: Boxkämpfe und Kino. Die Kinder von San Telmo schauten auch zu, tranken Coca Cola und tanzten zu Jazz. Das Barrio war ein angenehmer Ort um zu leben, um glücklich zu sein. Vor der Militärdiktatur (1976-1983) fand das Leben in den Strassen statt, es wurde palavert, gesungen. Und wer singt heute? Niemand. Wenn jemand singt ist er entweder betrunken, verrückt oder will Geld für das Gejaule. Ende der 70er Jahre wurde die Autobahn quer durch San Telmo gebaut. Manche Häuser standen im Weg und wurden abgebrotzt, Familien umgesiedelt, zwangsweise. Die Autobahn zerschnitt das Quartier und die Lebensfreude versank im Schlund dieses Betonmonsters. Das Quartier wurde grau. Später kamen die Künstler, die Studenten, die Touristen. Das Geld fliesst wieder, das Leben spriesst aus den grauen Mauern hervor. Ein anderes Leben, ein schnelleres Leben, ein weniger gemütliches Leben, aber immer noch ein gutes Leben. Das sind nicht meine Erinnerungen. Es sind die Erinnerungen von Hector, Gustavo, Nancy und Americo. Menschen, welche ihre Leben in San Telmo verbracht haben. Sie sind die Gesichter von San Telmo.
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