Der Bioladen bereits geschlossen, das Coop noch offen. Also muss es zwischen halb sieben und sieben Uhr abends gewesen sein. Der Untergrund grollte, wackelte, bebte. Der Lärm schmerzte durch die Ohren, in die Köpfe hinein. Ein Rumpeln, ein Ziehen, ein Ruckeln, ein Quietschen. Der Breitenrainplatz senkte sich langsam. Nicht sehr tief, aber halt doch, unverkennbar, ein Loch, der Breitsch in einer riesigen Schüssel. Die Beamten vom Tiefbauamt der Stadt Bern nahmen Tage später Mass: Bei der Tramhaltestelle, gleich vor dem Kiosk, hatte sich der Boden um etwa zehn Meter gesenkt. Am Rande des Breitschplatzes um etwa acht Meter. Erst beim Viktoria- und Guisanplatz endete die schüsselige Versenkung jeweils. Die Häuser standen schräge, die Geleise verdrehten sich, wie unglückliche chinesische Kunstturnerinnen. Rohre waren geplatzt. Gasgeruch, Kanalisationsgeruch, unbekannte Gerüche. Mundgeruch der Erde. Die Einkaufswagenkolonnen der Migros und vom Coop rollten selbständig, überfielen den Kiosk in der Mitte des Platzes. Glasscheiben erstaunlicherweise kaum zerborsten. Autos fuhren weiter, wie in den unendlichen Rundkursen der Indy-Cart-Serie. Auch die Menschen waren noch da. Ignorierten die veränderten Umstände, passten sich in geschwinder Evolution an. Der Schuhmacher verkaufte Schuhe mit schrägen Sohlen, Schuhe mit Pfropfen, Bergschuhe. Nach drei Tagen waren auch die Tramgeleise wieder repariert. Zur Sicherheit wurden Zahnräder vom Typ “Marzili-Bähnli“ an den Trams montiert. Trams rollten. Das Quartierleben ging weiter. Und dann, dann kam der Regen, der grosse Regen.
Es war ein Donnerstag. Der Regen hatte bereits in der Nacht eingesetzt. Anfangs monsunartig, dann ruhiger, aber stetig, immer stetig, ruhig, aber stetig, ruhig, aber allenthalben stetig. Der Regen in der Luft, schwängert die Pflanzen, bis wieder Donnerstag ist. Ausgepumpter Himmel. Das Wasser sammelt sich im Zentrum der Senke im Breitschquartier. Land unter beim Kiosk. Die benachbarte Herzogstrasse füllt sich auch rasch. Nur noch die schwimmenden Badewannen, welche dekorativ mit Pflanzen und Gestrüpp gefüllt sind, und die Baumkronen, sichtbar in der Strasse. Autos, Velos, Tische vom Vetter Herzog, die Telefonkartenschilder vom Tropical Zone, die gebührenpflichtigen blauen Abfallsäcke – unter Wasser, ruhig, aber unter Wasser. Aus den Fenstern im zweiten Stock gucken die Herzogstrassenbewohner auf ihre Strasse, auf ihren See. Manche aufgestützt, Ellenbogen auf Kissen, aufgestützte Gesichter. Starrend, manche auch amüsiert.
Die findigen Italiener vom Restaurant Ticino schnappen sich einige der Badewannen, schmeissen die Pflanzen in den Breitschsee, nehmen die Pizzaofenkellen, springen in die Badewannen und rudern. Sie rudern durch die Stille. Kein Verkehrslärm, keine quietschenden Trams. Stille, wie seit hunderten von Jahren nicht mehr in der Herzogstrasse. Der Strasse der vielen Coiffeurs. Coiffeurs für die Rekruten der nahen Kaserne, Coiffeurs für pedantische Feldweibel. Aber den Italienern ist das egal, sie rudern und rudern. Über die Kasernenwiese, die Militärstrasse runter bis zum Guisanplatz beim Wankdorf, tramartig zurück an den Breitenrainplatz, bis zum Viktoriaplatz. Dort stossen sie auf Land. Zu Fuss latschen die Italiener in die Altstadt; Mehl, Wein, Käse, Tomaten, Mineralwasser, Kaffeebohnen, Parmaschinken und Basilikum. Vollbeladen zurück über die Brücke, in die Badewannen, rudern, an den Breitschplatz, andocken im zweiten Stock über dem Ticino, im neuen Restaurant Ticino, halt eben im zweiten Stock. Die gekauften Zutaten gekocht, gebacken, gesalatet. An den Fenstern des neuen Restaurants lugen Herzogstrassenmenschen hinein, hungrig, allesamt in gekaperten Badewannen. Die Badewannenidee hat nämlich Schule gemacht. Badewannen aus den Fundamenten gerissen, wegoperiert. Weinende Sanitärinstallateure. Aber jetzt, Pizzas, Salate, Spagetti, Weine. Über die Gasse, über den See verkauft. Immer mehr Badewannen schwimmen an, die Küche hochbetriebig. Schnaubend. Röchelnd der zu kleine Ofen. Bereits drei, vier Badewannen tief, die breite Warteschlange, vor den Fenstern. Die Menschen im Quartier reissen mehr Wannen aus den Verankerungen. Basteln neue Ruder. Montieren Dächer über den Badewannen. Sonnensegel. Moskitonetze. YB-Fahnen. Zwischen dem Breitschplatz und dem Viktoriaplatz entsteht ein reger Fährbetrieb. Touristen, Beamte, Stadtberner, Landberner, Fischer, Fussballer, Quartierbewohnerinnen, Polizisten, Rekruten kommen.
Die Stadt Bern konstruiert mithilfe von WK-Soldaten ein Dock, und dann noch ein zweites Dock. Dockende Badewannen. Die Sonne kommt, der See bleibt. Seither ist es ruhiger im Breitsch, in der grossen Schüssel, ruhig, stetig ruhig. Z. vom Ticino spricht noch heute vom grossen Regen, der grosse Regen, der an einem Donnerstag kam und an einem Donnerstag wieder ging.
Und was wurde aus den Tschinggen im Docle Vita? Und sowieso, hätte man das Wasser nicht einfach in die Matte abpumpen können?
AntwortenLöschenDie haben jetzt ein Motorboot (700 PS) gekauft, günstige Gastarbeiter mit Migrationshintergrund angestellt und sitzen irgendwo südlich von Napoli, zu süssen Wein trinkend.
AntwortenLöschenDie Gemeinschaft "LiguLehm ohne Breitsch-Wasser" hat die Abpumperei verhindert.