Donnerstag, 3. Juli 2008

Das grosse Buch.

Ich radle über die Kasernenwiese. Dies ist nicht selbstverständlich. Haben doch die UEFA, die Schweizer Armee sowie allerhand Organisationen von nationaler Wichtigkeit, das Gelände während der EURO2000NTM eifrig besetzt. Da reichte nicht einmal mein frisch gewaschener Schweizer Pass für einen Zutritt auf diesem Gelände.

Ich tschaupe mit meinem scharlachroten Dreigänger (wobei nur ein Gang konsequent einsatzfähig ist) vom Typ “Sieger“ über die Wiese. Neben dem Konsi durch, rüber zur Pferdewiese, wo manchmal auch Ziegen herumtollen, und dann scharf rechts in den Rosengarten, auf dem Kiesweg in die Mitte des Rosengartens. Linkerhand spielen anatomisch intelligente Jungs Fussball, oben ohne. Wobei das “ohne“ am Füdle runterhängt. Wie ein Schwänzchen. Kaum zischt ein schärferer Schuss und die Ballannahme bedingt einen erkennbaren Körpereinsatz Richtung Ball, da fällt dieses Schwänzchen auf den Rasen und muss wieder korrekt angemacht werden.

Rechts eine Tamilen- oder Singhalesen-Familie. Mein ungeschärfter Blick erkennt den Unterschied nicht. Frage mich aber, wie dies wohl so ist, wenn sich Menschen aus Sri Lanka, aus den unterschiedlichen Teilen von Sri Lanka, hier in der Schweiz treffen. Wird da bloss höflich genickt? Werden einige Nettigkeiten ausgetauscht? Item. Die Leute sehen fröhlich aus und haben viele Essereien mitgebracht. Ein allfälliger Besuch einer Schweizer Familie könnte auch verpflegt werden. Aber die Schweizer sind wohl derzeit gerade nicht abkömmlich.

Ich entscheide mich für einen schattigen Platz auf der rechten Parkhälfte. Den Göppu lege ich ins Gras. Daneben eine scheinbar Mexikanische Decke mit akutem streifenförmigen Farbausschlag. Ich mache mich auf der Decke breit und lese. Etwas über Indien. Ich gucke kurz runter zu den Tamilen/Singhalesen. Die sind, soweit ich mich erinnern mag, teilweise auch in Südindien zuhause. Egal, ich lese weiter, etwas über Mumbai aka Bombay, die Sonne wandert zu meiner Decke.

Meine Schuhe schon exponiert, gleich kriegen die Strahlen meine Zehen. Ich schwitze, in blosser Erwartung. Die ersten Schweissperlen bilden sich am Haaransatz. Bald kullern diese wertlosen Perlen runter, zu den Ohren, manche in die Augen. Da sich die salzigen Schweissperlen mit der Sonnencreme (Avéne, auf Wasserbasis) vermischen, brennen meine Augen. Ich halte sie geschlossen. Zugekniffen. Das Hemd klebt, es verrutscht. Meine Arschspalte weißt eine gefühlte Temperatur von 46° Celsius auf. Die Decke schwitzt auch. Nein, eigentlich nicht die Decke, sondern ich, aber die Decke kriegt den Schweiss ab. Ich trinke, eine ganze Flasche, Wasserflasche. Dies erzürnt meinen Körper, er schwitzt noch mehr. Bäche vom Gesicht, auf der Brust, gar in den Kniekehlen. Ich stehe auf, schwankend. Die Shorts, pflotschnass, fallen ungehindert zu Boden. Nur noch die Boxer trage ich. Das Hemd, plötzlich viel zu gross, viel zu schwer. Der Schweiss fliesst. Die Grashalme um mich herum wachsen. Die Rosen hinter meinem grossen roten Flitzer entwickeln sich zu Diskusscheiben. Mein Indienbuch erreicht in Windeseile A3-Format. Ich erkenne blitzartig. Ich schrumpfe, entschwitze. Mein Körper zerfliesst unter der sonst scheuen Berner Sonne. Da die Boxershorts auch zu rutschen drohen, lege ich mich hin, auf die feuchte Decke. Der Hemdkragen überragt meinen Kopf, meine Augen auf Höhe der Knöpfe des Hemdes. Ich versuche ebendiese Knöpfe zu öffnen. Aber gross wie Stop-Schilder. Mit allerletzter Kraft murkse ich. Aber nichts, nichts geschieht. Ich gebe auf. Lege mich in mein feuchtes Hemd und schlafe ein.

Augen aufgerissen. Wir werden bombardiert. Wasserbomben schlagen auf mich, um mich herum ein. Hellwach, vor meinen Augen immer noch die Hemdknöpfe, aber ich wandere, ich expandiere. Mein Kopf erreicht den Hemdkragen. Die gigantischen Wassertropfen fallen bereits auf meine Stirn, jetzt in den Mund und dann schleckt eine 90 Zentimeter lange Zunge über meine Ohren, mein Kinn, meinen Mund. Ich rieche diese schrecklichen eingetrockneten Schweineohren. Plötzlich ein Schrei und das fellige Tier macht sich aus dem Staub, dem nassen Staub. Der Regen lässt mich wachsen, bald fülle ich auch meine Boxershorts wieder aus. Die Proportionen der Umgebung, das Gras, die Rosen, die Bäume, befinden sich wieder in der gewohnten Grösse. Nur das Buch, das Indienbuch, widersetzt sich diesem Trend. Aufgeklappt überragt es die mexikanische Decke. Buchstaben wie Hände. Ich lese „Her eyes were honest, and yet I knew there was a lot she wasn’t telling me. Her eyes were brave, and yet she was afraid. When I relented, and smiled at her, she laughed. I laughed, too.”

Das grosse Buch auf den Velogepäckträger montiert, schiebe ich das Fahrrad, neben den Indern-Singhalesn-Tamilen vorbei und fahre: Pferdewiese, Konsi, Kasernenwiese, zurück nach Hause. Dort reisse ich. Ich reisse alle Bücher aus dem Regal. Sanft setze ich das Indienbuch, welches noch tropft, ins Gestell. Nun steht es alleine dort.

Quelle Zitat: Shantaram, Gregory David Roberts, Abacus, London, S. 264

1 Kommentar:

  1. nebst dem unterhaltungswert der geschichte schätze ich insbesonder das NTM. Weltklasse!

    AntwortenLöschen